„Mit dem Zug ist natürlich krass“, schrieb meine zukünftige Chefin, als ich ihr von meinen Plänen für die Anreise berichtete. So ist auch in Deutschland fast nur Eisenbahnfreaks bekannt, dass die Russische Staatsbahn mehrere Schlafwagenzüge nach Westeuropa anbietet. Neben dem „Strizh“ von Berlin nach Moskau und dem „Polonez“ von Warschau nach Moskau sind dies noch der nur im Sommer verkehrende „Nizza“ von ebenda über Milano, den Brenner, Linz und Ostrava nach Moskau und der EN 452/453, der von Paris über Berlin, Warschau und Minsk ebenfalls die russische Hauptstadt ansteuert. Diesen Zug buchte ich für meine Reise nach Moskau. Der rationale Grund hierfür war, dass sich so das ganze Gepäck leichter und günstiger transportieren ließ. Dazu kam jedoch – und das war noch viel eher ausschlaggebend – dass mir die Fahrt mit dem Zug deutlich angenehmer ist. Ich bekomme ein Gefühl für die überwundene Entfernung, die im Flugzeug völlig verloren geht. Nicht zuletzt zähle ich selbst zu den Eisenbahnfreaks. Daher war es auch nicht meine erste Fahrt mit diesem Zug, ich hatte ihn kurz vor Neujahr schon einmal genommen.
Die Reise begann
zuhause in Stuttgart. Also es war bei der Abfahrt nicht mehr so richtig mein
Zuhause, denn ich hatte soeben die Schlüssel meinen Mietern übergeben. Mein
Vater holte mich im Suzuki Samurai ab und wir fuhren durch das sommerliche
Strohgäu zunächst nach Mönsheim in mein Elternhaus. Dort gab es noch ein
Abendessen zum Abschied und dann ging es weiter nach Karlsruhe, wo der EN 453
auf dem Weg von Paris nachts um 00:52 Uhr Halt macht. Auf dem Weg besorgten wir
noch zwei Dosen Stuttgarter Hofbräu an der Tankstelle in Wurmberg, die mir bis
heute etwas surreal erscheint, da ich die Stelle stets als Obstwiese in Erinnerung
habe. Gegen Mitternacht kamen wir am Karlsruher Hauptbahnhof an, der sich um
diese Zeit schon recht ausgestorben zeigte. Die letzten Geschäfte machten
gerade dicht. Zwischen einer Regionalbahn nach Mannheim und der S32 nach
Menzingen wirkte der EN 453 nach Moskau ziemlich obskur auf dem
Zugzielanzeiger. Wir tranken unser Bier und beobachteten die vorbeifahrenden
Güterzüge und einen späten ICE, der aus Kiel einlief. Bislang war dieser Bahnhof
mit seiner Bahnsteighalle aus Stahlbögen für mich meist eine Station auf kurzen
Dienstreisen, morgens hin, am Nachmittag zurück. Als Ausgangspunkt für eine
Reise in einen neuen Lebensabschnitt war er eigentlich viel zu banal. Das war
vielleicht gar nicht verkehrt so. Der Zug rollte heran, es bildete sich eine
kleine Traube um die Provodniza, etwa fünf weitere Fahrgäste stiegen hier in
Wagen 256 ein. Wir verabschiedeten uns, wobei ich vollauf mit meinen vier
Gepäckstücken beschäftigt war.
Mein
Viererabteil war bis Karlsruhe leer gewesen, eine ältere Dame war ebenfalls
hier eingestiegen. Sie versuchte gerade herauszufinden, welches ihr Platz war.
Meiner war die Nummer 36, eine der oberen Liegen. Sie hatte den unteren auf der
gegenüberliegenden Seite. Die Provodniza, wie russischen
Schlafwagenschaffnerinnen genannt werden, sagte uns, dass in Berlin weitere
Fahrgäste einsteigen würden. Ich hoffte, dass die nicht auch so viel Gepäck
haben würden wie ich. Meine zwei Koffer verstaute ich unter der unteren Liege,
den Reiserucksack stellte ich mitten auf den Boden und die Tasche mit Proviant,
Laptop und Kulturbeutel musste wohl oder übel bei mir im Bett Platz nehmen.
Meine Mitreisende hieß Nina und sprach nur Russisch, was eine gute Gelegenheit zum üben war. Sie hatte ihre Tochter in der Nähe von Böblingen besucht und war nun auf dem Heimweg nach Minsk. Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile und legten uns schließlich gegen halb zwei schlafen.
Gulaschsuppe
und Tyskie im Speisewagen
Ich wachte erst auf, als wir schon durch die Vororte von Berlin rollten. Beim letzten Mal war der Zug noch über Halle und den unteren Teil des Berliner Hauptbahnhofs gefahren. Nun fuhr er über Erfurt und hielt nur noch in Berlin-Lichtenberg. Dort hatte er einen planmäßigen Aufenthalt von 19 Minuten, in denen die Lok gewechselt wurde. Bis hierher waren wir mit einer 101 der Deutschen Bahn unterwegs, bis zur weißrussischen Grenze übernahm nun eine Mehrsystemlokomotive der Reihe EU 44 „Husarz“ der Polnischen Staatsbahn PKP. Da wir mit etwas Verspätung angekommen waren, traute ich mich nicht vom Bahnsteig weg. Wer wusste, ob der Lokwechsel wirklich 19 Minuten dauern würde. Das Lokpersonal beruhigte mich aber, es war noch genug Zeit, beide Maschinen zu fotografieren und dann gemütlich zu meinem Wagen zurückzulaufen. Als ich wieder im Abteil ankam, war ein Ehepaar zugestiegen. Sie waren etwas ratlos angesichts meiner vielen Gepäckstücke, da sie auch noch einige Koffer und einen Flachbildfernseher dabei hatten. Von nun an durfte ich mein Bett also auch noch mit meinem Reiserucksack teilen.
Wie sich bald
herausstellte, hießen die beiden Irma und Sascha, waren die beiden
Spätaussiedler und lebten in Berlin. Sie waren auf dem Weg nach Tula, ihrer
Heimatstadt, wo sie seine Mutter besuchten. Ebenfalls im Zug war ihr Freund Eduard,
ein pensionierter Bergarbeiter, der nach Tula fuhr, um seine Familie zu
besuchen. Irma sprach als einzige Deutsch und konnte mir hin und wieder
übersetzen. Nach einer lebhaften Unterhaltung über das Schicksal der
Russlanddeutschen, die Kohleminen von Tula und die Rentenniveaus hier und da
begab ich mich in den polnischen Speisewagen. Dieser ist nur von Paris bis
Warschau im Zug, was an den Einfuhrbeschränkungen für Lebensmittel liegt. Ab
Brest ist dann ein russischer Speisewagen im Zug.
Ich erkannte
die Bedienstete vom letzten Mal wieder. Sie hieß Ewa und ist immer in diesem
Zug unterwegs, wie sie erzählte. Die Polin spricht fließend Russisch, dazu
Deutsch und Englisch. Ich bestellte mir eine Gulaschsuppe und ein Tyskie,
welches mir serviert wurde, als wir gerade die Weichsel bei Toruń überquerten. Die
Suppe schmeckte typisch osteuropäisch, reichhaltig und deftig, mit ordentlich
Fleisch drin. Nach diesem Mittagessen erreichten wir schon bald den Bahnhof Iława
Główna, in dem ein Aufenthalt zum Richtungswechsel anstand. Bei Fotografieren
der Lok kam ich mit einem Australier ins Gespräch. Er war mit seiner Frau auf
großer Europatour durch aller Herren Länder, darunter England, Irland,
Frankreich, Russland, Lettland, Kroatien und Slowenien. Sie fuhren die ganze
Strecke von Paris bis Moskau. Wir verabredeten uns für den Abend im russischen
Speisewagen.
In Warschau (Bahnhof Warszawa Wschodnia) stand schon bald der nächste Rangieraufenthalt an. Hier wurde der polnische Speisewagen ausgereiht und abermals die Fahrtrichtung gewechselt. Das bot genug Zeit, sich in der Bahnhofshalle mit Proviant einzudecken und nebenbei noch den Alltagsbetrieb auf einem quirligen polnischen Großstadtbahnhof zu beobachten. Bis zur Außengrenze der EU war es nun noch etwa zwei Stunden. Die Sonne war schon am untergehen als wir den riesigen Güterbahnhof Małaszewicze passierten, an dem Waren von russischer Breitspur auf die europäische Normalspur umgeladen werden. Kurz darauf folgte auch schon der polnische Grenzbahnhof Terespol. Die Passkontrolle verlief recht unspektakulär. Im nur wenige Kilometer entfernten Brest dann die weißrussische Passkontrolle, die etwas länger dauerte. Ich als einziger ohne weißrussischen oder russischen Pass im Abteil musste meine Migrationskarte ausfüllen.
Das Problem mit
dem Einreisestempel
Da zwischen Weißrussland und Russland ähnlich dem Schengen-Raum keine Grenzkontrollen stattfinden, bekommt man als Angehöriger eines Drittstaats zum Zug nur einen weißrussischen Einreisestempel, auch wenn man nach Russland weiterreist. Laut der Botschaft der Russischen Föderation ist der Landweg aufgrund der fehlenden Kontrolle nicht erlaubt. Für Flughäfen gibt es Ausnahmeregelungen, für den Eisenbahnverkehr gibt es eine immer wieder zitierte Duldung des russischen Verkehrsministeriums. Die Frage, ob man nun illegal handelt, wenn man als Nichtrusse diesen Zug benutzt, sorgt in einschlägigen Internetforen regelmäßig für lange Diskussionen und Spekulationen. Mir ist jedoch kein einziger Bericht bekannt, wonach jemand Ärger bekommen hätte, der im „Strizh“ oder im EN 452/453 Weißrussland ohne Ausstieg und mit gültigem Transitvisum durchquert hat. Ob die Gruppe niederländischer Touristen in unserem Wagen sich wohl je mit der Frage beschäftigt hat? Oder die Australier? Ich habe leider nicht daran gedacht, sie zu fragen. Vielleicht besser so, es hätte sie wohl nur unnötig verunsichert.
Vom
Personenbahnhof Brest ging es zunächst rückwärts in eine Halle auf dem
Bahngelände. In zahlreichen Rangierbewegungen wurde der Zug in seine einzelnen
Wagen zerlegt, welche dann für den Wechsel der Drehgestelle aufgebockt wurden.
Die Fahrgäste blieben bei dieser etwa zweistündigen Prozedur im Zug. Die Russen
führten ihre Unterhaltungen fort, die Touristen schauten aufgeregt den
Arbeitern zu, wie sie die neuen Drehgestelle auf dem Vierspurgleis heranschoben
oder mittels eines Portalkrans Metallteile heranschafften. Einer der
Niederländer bettelte den Provodnik an, ob er ihn für ein Foto kurz vor die Tür
lasse, doch der ließ nicht mit sich verhandeln.
Nach und nach
wurden die Waggons von einer Rangierlok wieder zu einem Zug zusammengesetzt und
es ging zurück in den Bahnhof von Brest. Kurz nach der Abfahrt öffnete der
russische Speisewagen, wo ich Don und Kursty aus Melbourne traf. Bei
verschiedenen Bieren aus Russland und Deutschland erzählten die beiden von
ihrer Reise, die mehrere Monate ging und auf einer Hochzeit in England enden
sollte. Sie hatten dafür ihr Haus untervermietet. Einer ihrer Söhne war
gleichzeitig auf einer anderen Route in Europa unterwegs. Ich erfuhr einiges
über Australien, etwa dass es dort deutsche Siedlungen gibt, was mir bis dahin
völlig unbekannt war. Wo eigentlich nicht? Es war ein sehr interessanter und
netter Abend.
Da Nina nachts in Minsk ausstieg, legte ich meinen Rucksack ins untere Bett gegenüber, um endlich mal wieder ausgestreckt liegen zu können. Das war allerdings keine besonders schlaue Idee, denn morgens um 6 weckte mich der Provodnik mit der Frage, ob das mein Rucksack sei. In Smolensk war noch ein Mädchen eingestiegen, dass natürlich keine Lust hatte, sich das Bett mit einem Reiserucksack zu teilen. Also hievte ich ihn wieder hinauf und legte mich dazu. Als ich das nächste Mal aufwachte, waren wir schon recht nah an Moskau. Beim Provodnik mit seiner langsamen Kaffeemaschine bildete sich eine Schlange, da die ganzen Niederländer Kaffee haben wollten. Für ein Frühstück im Speisewagen reichte es noch. Da es keine Eier mehr gab, wurden es statt eines Omeletts Blini mit Marmelade. Dann hieß es auch schon zusammenpacken. Am Bahnsteig machte ich noch ein Foto von Kursty und Don und nahm dann ganz dekadent den völlig überteuerten Gepäckwagen-Service in Anspruch, um mich zum ebenfalls völlig überteuerten Taxi zu begleiten.
Am Ziel
Die Suche nach
meiner über Booking.com gebuchten Unterkunft für die ersten Tage erwies sich
etwas schwierig, zumal sich herausstellte, dass die angegebene Adresse die der
Firma war und nicht die meiner Wohnung. Nach einigem hin und her fanden wir
schließlich das Haus, ein 16-stöckiger Wohnblock in der Nähe der Metrostation
Jugo-Sapadnaja, so typisch Moskau wie nur irgendwie geht. Es war recht diesig
und schwül, ein leichter Wind zog durch die offenen Fenster meines Zimmers in
einer Wohnung im neunten Stock. Aus dem Fenster blickte ich auf unzählige weitere
Wohnblocks, umsäumt von endlosem Grün der dazwischen stehenden Bäume, auf der
vierspurigen Straße fuhren Trolleybusse. Ich war am Ziel!
Wer mit dem Zug nach Moskau reisen möchte, kann die Tickets direkt auf der englischsprachigen Website der Russischen Eisenbahn bestellen. Tickets zweiter Klasse ab Karlsruhe kosten etwa 19.000 Rubel, was ungefähr 260 Euro entspricht. Neben einem russischen Visum braucht es auch ein weißrussisches Transitvisum.